74. Kapitel: Warum sich Duryodhana
am Ende des Rajasuya-Opfers gedemütigt fühlte
König Yudhisthira
war als
ajatasatru bekannt,
"jemand, der keine
Feinde hat". Daher
waren alle
Menschen und alle Halbgötter sowie alle Könige, Weisen
und Heiligen sehr glücklich, daß
sie der erfolgreichen
Durchführung von König Yudhisthiras
rajasuya-yajna
hatten beiwohnen dürfen. Maharaja Pariksit wunderte es,
daß Duryodhana als einziger unzufrieden war, und so bat
er Sukadeva Gosvami, diesen Umstand zu erklären.
Sukadeva Gosvami antwortete ihm: "Mein lieber König
Pariksit, dein Großvater König
Yudhisthira war eine
große Seele. Aufgrund seines gewinnenden Wesens wurde
jeder gern sein Freund, und deshalb war er als ajatasatru
bekannt, d.h. als jemand, der sich
niemals einen Feind
schuf. Als er die Durchführung
des rajasuya-Opfers
plante, übertrug er jedem Angehörigen der Kuru-Dynastie
die Verantwortung für
einen bestimmten Teil der
Organisation. Bhimasena zum
Beispiel war für die
Küchenangelegenheiten zuständig, Duryodhana für
die
Finanzen, Sahadeva für den Empfang,
Nakula für die
Vorräte, und Arjuna war damit
beauftragt, sich um das
Wohl der älteren Gäste zu kümmern.
Das erstaunlichste
war, daß Krsna, die Persönlichkeit
Gottes, die Aufgabe
übernahm, allen neuankommenden Gästen die
Füße zu
waschen. Die Königin, die Glücksgöttin Draupadi, war für
die Verteilung der Speisen zuständig, und weil Karna für
Seine Mildtätigkeit berühmt war, wurde
ihm die Verantwortung für die Spendenverteilung zugesprochen. Ebenso
wurden auch
Satyaki, Vikarna,
Hardikya, Vidura,
Bhurisrava und Santardana,
der Sohn Bahlikas, mit
verschiedenen Aufgaben betraut, die das
rajasuya-Opfer
mit sich brachte. Sie alle waren
König Yudhisthira so
zugetan, daß sie keinen anderen Wunsch hatten, als ihn zu
erfreuen.
Nachdem Sisupala durch die Gnade Sri Krsnas den Tod
gefunden hatte und in die spirituelle Existenz eingegangen
war und nachdem zum Schluß des
rajasuja-yajna alle
Freunde, Gäste und
Gönner ausreichend geehrt und
beschenkt worden waren, ging König
Yudhisthira zum
Ganges, um dort ein Bad zu nehmen.
Die Stadt Hastinapura
liegt heute am Ufer der
Yamuna, aber weil das Srimad-Bhagavatam
an dieser
Stelle sagt, daß König Yudhisthira zum Ganges ging, um
ein Bad zu
nehmen, können
wir daraus die
Schlußfolgerung ziehen, daß zur Zeit
der Pandavas auch
die Yamuna als Ganges bezeichnet
wurde. Während der
König das avabhrtha-Bad
nahm, erklangen vielerlei
Musikinstrumente wie
mrdangas, Muschelhörner,
Trommeln, Kesselpauken und Hörner. Dazu klingelten die
Fußglöckchen tanzender Mädchen, und viele
Gruppen
von berufsmäßigen Musikanten und Sängern spielten auf
ihren vinas, Flöten, Gongs und
Zimbeln. So schallte
weithin ein gewaltiges Konzert. Die
königlichen Gäste,
die aus Srnjaya, Kamboja, Kuru,
Kekaya, Kosala und
vielen anderen Ländern gekommen waren, hatten sich mit
ihren verschiedenen Flaggen eingefunden
und führten
Eskorten von prachtvoll geschmückten
Elefanten sowie
von Streitwagen, Pferden und Kämpfern mit sich. Sie alle
bildeten eine eindrucksvolle Prozession,
und an ihrer
Spitze schritt König Yudhisthira. Es
wurde ein Opfer
durchgeführt, und die vorsitzenden
Priester sowie die
Nebenpriester und
die versammelten
brahmanas
chanteten alle laut vedische Hymnen. Die Halbgötter, die
Bewohner Pitrlokas und Gandharvalokas sowie auch viele
Weise ließen Blumen vom Himmel
regnen. Die Männer
und Frauen von Hastinapura, Indraprastha,
die zu dieser
Feier ihren Körper mit
Duftstoffen und Blumenölen
eingerieben hatten, waren
in farbenfrohe Gewänder
gekleidet und mit Geschmeide, Juwelen
und Girlanden
geschmückt. Ihnen allen bereitete diese Zeremonie große
Freude, und vergnügt bewarfen sie
sich gegenseitig mit
Flüssigkeiten wie Wasser, Öl, Milch, Butter und Joghurt,
und einige rieben sich sogar gegenseitig diese Substanzen
auf den Körper. Auf diese Weise
herrschte eine sehr
ausgelassene Stimmung. Die
berufsmäßigen Hetären
nahmen ebenfalls daran teil und rieben diese Flüssigkeiten
fröhlich auf die Körper der Männer, die es ihnen auf die
gleiche Weise erwiderten. Alle
Flüssigkeiten waren mit
Turmerik und Safran vermischt, und
deshalb war ihre
Farbe leuchtend gelb.
Am
Himmel
schwebten
deutlich sichtbar
Himmelsflugzeuge, in denen die Frauen vieler Halbgötter
herbeigekommen waren, um
dem wundervollen Fest
zuzuschauen. Ebenso erschienen die Königinnen
und die
anderen Frauen der Königsfamilie auf
ihren Sänften, sie
waren prachtvoll
geschmückt und
wurden von
Leibwächtern umgeben. Sowie Sri Krsna,
der Vetter der
Pandavas mütterlicherseits, und Sein enger Freund Arjuna
die Königinnen erblickten, bewarfen sie
sie mit den
Flüssigkeiten, und die Königinnen wurden
ein wenig
verlegen, doch gleichzeitig lächelten sie bezaubernd, und
dieses Lächeln ließ ihre Gesichter
hell erstrahlen. Die
Saris, die sie trugen, waren schnell durchnäßt und ließen
verschiedene Teile
ihrer wohlgeformten
Körper,
insbesondere die Brüste
und die Hüften, teilweise
durchschimmern. Auch die
Königinnen hatten Eimer
voller Flüssigkeiten mitgebracht und fingen ihrerseits an,
ihre Schwäger zu bespritzen. Während sie sich an diesen
fröhlichen Spielen erfreuten, löste sich
ihr Haar, und die
Blumen, die ihren Körper schmückten,
fielen zu Boden.
Als sich Sri Krsna,
Arjuna und die
Königinnen so
ausgelassen vergnügten, wurden die Menschen,
die nicht
rein im Herzen waren, von
lustvollen Begierden erregt.
Mit anderen Worten, solche Spiele
zwischen Männern
und Frauen, die vollkommen rein
sind, sind die Quelle
von Freude, doch
materiell verunreinigte Menschen
werden dabei von Lust ergriffen.
Zusammen mit Draupadi
und seinen anderen
Königinnen wohnte König Yudhisthira dem Fest in einer
prachtvollen Kutsche bei, vor die
majestätische Pferde
gespannt waren. Die Festlichkeiten der
Opferzeremonie
waren so wundervoll anzuschauen, daß es
schien, als sei
Rajasuya in Person zusammen mit
allen personifizierten
Opferriten zugegen.
An das rajasuya-Opfer schloß sich die vorgeschriebene
vedische Zeremonie
namens patnisamyaja
an, die
zusammen mit der eigenen Ehefrau
durchgeführt wird.
Auch dieses Opfer wurde
von den Priestern König
Yudhisthiras regelkonform
durchgeführt. Als Königin
Draupadi und König
Yudhisthira ihr avabhrtha-Bad
nahmen, ließen sowohl die Bewohner von Hastinapura als
auch die Halbgötter vor Freude
Trommeln ertönen und
spielten auf Trompeten, während es Blumen vom Himmel
regnete. Als der König und die
Königin ihr Bad im
Ganges beendet hatten, stiegen alle
anderen Bürger der
verschiedenen varnas oder
Kasten - die brahmanas,
ksatriyas, vaisyas und sudras - in
den Ganges, um
ebenfalls ein Bad zu nehmen. Im Ganges zu baden wird in
den vedischen Schriften empfohlen, denn
dadurch wird
man von allen sündhaften Reaktionen
befreit. Dies ist in
Indien auch heute noch üblich, vor
allem zu besonders
glückverheißenden
Zeitpunkten.
Bei solchen
Gelegenheiten baden
Millionen von
Menschen im
Ganges.
Nachdem König Yudhisthira sein Bad genommen hatte,
zog er sich ein neues Seidengewand
und einen Umhang
an und schmückte sich mit kostbaren
Juwelen. Doch er
kleidete und schmückte nicht nur
sich selbst, sondern er
schenkte auch den Priestern und allen anderen, die an dem
yajna teilgenommen
hatten, neue
Gewänder und
Schmuckstücke. Auf diese Weise wurden sie alle von König Yudhisthira verehrt. Er war
immer bemüht, all seine
Freunde, Familienangehörigen, Verwandten,
Gönner und
die anderen Anwesenden zu verehren,
und weil er ein
großer Geweihter Sri Narayanas, d.h. ein
Vaisnava, war,
wußte er, wie man jeden
zuvorkommend behandelt. Das
Bestreben der Mayavadi-Philosophen, jeden
als Gott zu
sehen, ist eine künstliche Vorstellung und führt zu einem
falschen Verständnis von
Einheit. Ein Vaisnava, ein
Geweihter Sri Narayanas, sieht jedes Lebewesen
als Teil
des Höchsten Herrn, und deshalb
befindet sich sein
Verhalten gegenüber
anderen Lebewesen
auf der
absoluten Ebene. Genau wie man für
einen Teil seines
Körpers nicht weniger sorgt als für einen anderen, da sie
alle Teile des gleichen
Körpers sind, so macht
der
Vaisnava keinen Unterschied zwischen
einem Menschen
und einem Tier, denn er sieht in beiden die Seele und die
Überseele.
Als alle nach dem Bad erfrischt
waren und sich mit
seidenen Gewändern, Juwelenohrringen,
Blumengirlanden, Turbanen, langen
Umhängen und
Perlenhalsketten geschmückt hatten, sahen sie aus wie die
Halbgötter des Himmels. Dies traf ganz besonders auf die
Frauen zu, von denen jede erlesenste Kleider trug, die auf
Hüfthöhe von einem goldenen Gürtel
gehalten wurden.
Sie alle lächelten, und dies
verlieh ihnen zusammen mit
dem tilaka-Zeichen und den Locken, die ihnen vereinzelt
ins Gesicht fielen, ein bezauberndes Aussehen.
Alle, die an dem rajasuya-Opfer teilgenommen hatten -
die hochgebildeten Priester, die
brahmanas, die bei der
Durchführung des Opfers geholfen hatten, die Bürger aller
varnas, die Könige, die Halbgötter,
die Weisen und
Heiligen und die Bewohner Pitrlokas -, waren mit König
Yudhisthira sehr zufrieden und kehrten schließlich voller
Frohsinn nach Hause zurück. Dabei
sprachen sie ununterbrochen über die Taten König
Yudhisthiras und
wurden es niemals müde, seine Größe
zu preisen, genau
wie man immer wieder Nektar trinken kann, ohne jemals
satt zu werden. Als alle geladenen
Gäste wieder die
Heimreise antraten, hielt
Maharaja Yudhisthira seine
engsten Freunde, unter ihnen auch Sri
Krsna, zurück,
indem er ihnen einfach nicht
erlaubte, fortzugehen. Und
da Sri Krsna dem König die Bitte
nicht abschlagen
konnte, schickte Er die Helden der
Yadu-Dynastie, wie
Samba und andere, nach Dvaraka zurück, während Er persönlich in Hastinapura blieb, um den König zu erfreuen.
In der materiellen Welt hat jeder
bestimmte unerfüllte
Wünsche; aber man kann sich seine Wünsche niemals zur
vollen Zufriedenheit erfüllen. König
Yudhisthira jedoch
war dank seiner bedingungslosen Hingabe zu Krsna in der
Lage, durch die Darbringung des
rajasuya-Opfers all
seine Wünsche
erfolgreich zu
erfüllen. Aus der
Schilderung des rajasuya-Opfers geht
hervor, daß eine
solche Zeremonie ein riesiger Ozean reicher Wünsche ist.
Keinem gewöhnlichen Menschen ist es
möglich, solch
einen Ozean zu überqueren. Durch Sri
Krsnas Gnade
jedoch gelang dies Maharaja Yudhisthira mit Leichtigkeit,
und so wurde er frei von allen Sorgen.
Als Duryodhana sehen mußte, welcher Ruhm Maharaja
Yudhisthira nach der Durchführung des
rajasuya-yajna
zuteil wurde und wie
er dadurch in jeder
Hinsicht
vollkommene Zufriedenheit erlangt hatte,
loderte in ihm
das Feuer des Neides auf, denn
sein Herz war ständig
voller Gift. Er beneidete die Pandavas schon allein wegen
ihres Herrschaftspalastes, den der Dämon Maya für sie erbaut hatte.
Dieser Palast,
ein architektonisches
Meisterwerk, war einzigartig in seiner
verwirrenden und
kunstreichen Gestaltung, und er hätte
sowohl für große
Herrscher und Könige als auch für
Dämonenfürsten eine
würdige Residenz dargestellt. In diesem großen Palast nun
lebten die
Pandavas
zusammen
mit ihren
Familienmitgliedern und
ihrer Gemahlin, Königin
Draupadi, die ihnen glücklich und
zufrieden diente. Und
weil sich in jenen Tagen auch Sri
Krsna dort aufhielt,
wurde der Palast durch die
Anwesenheit Seiner vielen
tausend Königinnen
noch verschönt.
Wenn die
Königinnen mit ihren
vollen Brüsten und schlanken
Taillen durch den Palast schritten
und die Fußglöckchen
bei jeder ihrer Bewegungen lieblich
klingelten, erschien
der Palast herrlicher als die himmlischen Königreiche. Die
Perlenhalsketten auf ihren Brüsten, die
teilweise mit Safranpuder betupft waren, hatten sich
rötlich gefärbt, und
ihr wallendes Haar, von dem sich
funkelnde Ohrringe
abhoben, verlieh ihnen ein noch zauberhafteres Aussehen.
Als Duryodhana diesen mit Schönheit
gesegneten Palast
von Maharaja Yudhisthira sah, wurde
er sehr neidisch,
und sein Neid und seine Lust wurden noch geschürt, als er
die Schönheit Draupadis sah, denn er empfand schon seit
dem Tag ihrer Heirat
mit den Pandavas eine
ganz
besondere Anziehung zu ihr. Duryodhana
hatte nämlich
ebenfalls an der
Versammlung teilgenommen, wo
Draupadi ihren Bräutigam auswählen sollte,
und er war,
wie alle anderen
Prinzen, von Draupadis Schönheit
fasziniert gewesen, doch es war ihm nicht gelungen, ihre
Gunst zu erlangen.
Es war an einem Tag, als
König Yudhisthira auf dem
goldenen Thron in dem vom Dämon
Maya errichteten
Palast saß; seine vier Brüder und andere Verwandte sowie
sein großer Gönner, die Höchste
Persönlichkeit Gottes,
waren ebenfalls zugegen, und es
schien, als sei sein
materieller Reichtum nicht geringer als der Brahmas. Als
der König so in der Gemeinschaft seiner Freunde auf dem
Thron saß und den Vortragskünstlern zuhörte, die in Form
wundervoller Gesänge Gebete
darbrachten, besuchte
Duryodhana mit einem
jüngeren Bruder den Palast.
Duryodhana trug einen glänzenden Helm, und er hielt ein
Schwert in der Hand. Er war stets neiderfüllt und reizbar,
und deshalb genügte schon eine
Kleinigkeit seitens der
Torwächter, daß er aufbrauste und ihnen wüste Worte an
den Kopf warf. Er regte sich
auf, daß es ihm nicht
gelungen war,
Wasser vom
festen Boden zu
unterscheiden. Durch die Kunst des
Dämons Maya war
nämlich der Palast an mehreren
Stellen so angelegt, daß
jemand, der die Tücken des
Bauwerkes nicht kannte,
Wasser für Land und Land für Wasser halten mußte. Auch
Duryodhana ließ sich durch dieses
Blendwerk täuschen,
und als er versuchte, über das Wasser zu gehen, das er für
festen Boden hielt, war er ins Leere getreten. Als er so aus
eigener Dummheit ins Wasser fiel, lachten die Königinnen
über sein
Mißgeschick. König
Yudhisthira konnte
verstehen, wie Duryodhana
zumute sein mußte, und
versuchte deshalb,
die Königinnen
vom Lachen
abzuhalten; doch Sri Krsna gab ihm zu verstehen, daß er
ihnen den Spaß nicht verderben
solle. Es war nämlich
Krsnas Wunsch, daß
Duryodhana auf diese Weise
bloßgestellt wurde und daß alle über seine Unbeholfenheit
lachen konnten. Als alle über Duryodhana lachten, fühlte
dieser sich tödlich gekränkt, und
seine Haare sträubten
sich ihm vor Wut. Gedemütigt machte
er sogleich kehrt
und verließ gesenkten Hauptes den Palast, ohne auch nur
ein Wort der Empörung zu äußern.
Als Duryodhana in
einer solchen Stimmung den Palast
verließ, tat allen der
Vorfall leid, und auch König
Yudhisthira wurde sehr
bekümmert. Doch trotz alledem schwieg Krsna; Er sprach
Sich weder für noch gegen die
Geschehnisse aus. Es
schien, als sei Duryodhana durch den höchsten Willen Sri
Krsnas in Illusion versetzt worden,
und dies bildete den
Anfang der Feindschaft zwischen den
beiden Teilen der
Kuru-Dynastie. So war dieser Zwischenfall offensichtlich
ein Teil von Krsnas Plan in Seiner Mission, die Last auf
der Welt zu vermindern."
So lautete die Erklärung Sukadeva
Gosvamis auf die
Frage von König Pariksit, warum
Duryodhana nach der
Beendigung des großen rajasuya-Opfers
nicht zufrieden
war.
Hiermit
enden die Bhaktivedanta-Erläuterungen zum 74. Kapitel des Krsna-Buches:
"Warum sich Duryodhana am Ende des Rajasuya-Opfers gedemütigt fühlte".